Willi Luh, Feierstunde anlässlich seiner Ernennung zum Ehrenvorsitzenden 

Er hat Vorschläge gemacht

Laudatio auf Willi Luh in der Feierstunde des Geschichtsvereins anlässlich seiner Ernennung zum Ehrenvorsitzenden im Historischen Rathaus der Stadt Büdingen am 1. Dezember 2011
von Dr. Volkmar Stein

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

manche von Ihnen sind länger als ich Mitglied des Büdinger Geschichtsvereins, als dessen Vorsitzender Willi Luh soeben nach fünfundvierzigjähriger Amtszeit offiziell verabschiedet und geehrt worden ist. Den Auftrag, hierüber zu sprechen, den mir der neue Vorstand erteilte, erfülle ich nach besten Kräften. Wenn Sie der Meinung sind, in meiner kleinen Laudatio sei Wichtiges nicht richtig gesehen oder übersehen worden, dann lassen Sie es nachher den Geehrten wissen – er wird sich darüber freuen.

In den jüngsten „Büdinger Geschichtsblättern“ hat er noch einmal einen Tatenbericht erstattet – von sich selbst wie Cäsar in der dritten Person redend. Auch die wichtigsten Auszeichnungen, die ihm für sein Wirken zuerkannt wurden, hat er genannt. An anderer Stelle dieses Bandes hat er einige Fragen von Petra Lehmann-Stoll zu seiner Epoche beantwortet. Ich setze Ihrer aller Einverständnis damit voraus, dass ich das dort Gesagte und Geschriebene hier nicht ausführlich wiederhole. Den Respekt vor Willi Luh statte ich damit ab, dass ich es mir schwerer mache. Nachdem ich meine persönlichen Erinnerungen als langjähriger Kollege an den Gymnasiallehrer und Ausbilder aktiviert und die programmatischen Passagen seiner Vorworte zu den „Geschichtsblättern“ noch einmal gelesen habe, versuche ich zu skizzieren, was er gewollt, wie er dafür gekämpft und was er erreicht hat.

Da Sie, verehrter Herr Luh, zuletzt von sich in der dritten Person geredet haben, werden Sie mir nicht verübeln, dass auch ich es tue. Dass ich, über Sie sprechend, immer auch zu Ihnen, vielleicht sogar mit Ihnen spreche, werden Sie mir abnehmen!

Als ganz junger Mann musste Willi Luh „unter die Soldaten“, in den furchtbaren Zweiten Weltkrieg, und wurde schwer verwundet. Diese Verwundung wurde ihm nicht, wie vielleicht den Soldaten früherer Kriege, erträglicher gemacht, legitimiert durch die Überzeugung, für eine gute Sache gekämpft zu haben. 1945 aber saß die bleiche Mutter Deutschland besudelt unter den Völkern. Das hat ihn geprägt. Nicht in einem beiläufigen, episodischen Sinne. Es hat ihn davon überzeugt, dass die Welt aus den Angeln war. Dass sich nicht nur, aber vor allem in unserm Land etwas, vieles ändern müsse. Dass es friedlicher, freier, demokratischer werden müsse. Seine Tätigkeit als Gymnasiallehrer und Leiter des Schulseminars hat er auch, ja vielleicht vor allem in den Dienst dieser Sache gestellt, und nicht anders wird er es gehalten haben, als er 1981 Schulaufsichtsbeamter in Hanau wurde – eine Funktion übernahm, in der ich mit ihm keinen Kontakt mehr hatte. Auf die Frage, mit welchen Mitteln die erstrebte Verhaltensänderung erreicht werden könnte, boten sich mehrere Antworten an. Den Weg Willi Luhs möchte ich einen aufklärerischen nennen. Er war, wenn ich mich nicht täusche, vor allem durch seine Begegnung mit der Gruppendynamik und der Gestalt Tobias Brochers bestimmt. Wie Brocher wollte er jungen wie älteren Menschen ihre Rolle in der Gruppe und ihre Motive dadurch bewusst machen – und als veränderbar aufzeigen –, dass er beides zum Thema des Gesprächs machte und jeden dem Urteil der anderen aussetzte. Wenn es irgend anging, ließ er die Schüler ihre Stühle im Kreis aufstellen, damit sie einander ins Auge sehen, so einander direkt ansprechen und die Reaktion des Angesprochenen beobachten konnten. Gemütlich war das nicht. Manchem war es so schmerzhaft wie die Extraktionskünste des Doktor Eisenbarth. Willi Luh aber ließ nicht locker. Er ließ nie locker. Seit 1954 lehrte er am Wolfgang-Ernst-Gymnasium. Zehn Jahre später lernte ich ihn dort kennen, und was mir, sicher nicht nur mir sofort auffiel, war seine sprungbereite, kämpferische Haltung. Schon seine Art zu sprechen verriet, dass er ständig unter Druck stand, seine Gesprächspartner, seine Schüler wie den Kollegen in der kleinen oder großen Pause, herausfordern wollte. Eine nicht ganz unproblematische Mathematikerin ordnete ihn in die Gruppe der drei bösen Ls im Kollegium ein. Mit dem damals durchaus nicht üblichen Willen, Veränderungen herbeizuführen, verband er in überraschender Weise die durchaus deutsche Tugend der Präzision. Berühmt bei Schülern und Lehrern waren die sowohl intensiven als auch extensiven Randkorrekturen und Schlussbeurteilungen in sehr ordentlicher Schrift, die er Schülerarbeiten zuteilwerden ließ. Er nahm seine Sache sehr ernst. Lieber als Schulaufsichtsbeamter wäre er Leiter eines Gymnasiums geworden. Sapientis est ordinare, sagt Thomas von Aquin mit Aristoteles: Sache des Wissenden, des Weisen ist es, die Dinge zu ordnen.

Ordnen, meine Damen und Herren, konnte er die Dinge viereinhalb Jahrzehnte lang als Vorsitzender des Büdinger Geschichtsvereins, dreieinhalb Jahrzehnte als Leiter des Heuson-Museums, das zu Beginn seiner Amtszeit auf Wunsch des Bürgermeisters Willi Zinnkann in dieses Haus verlagert wurde. Es gibt kaum ein Vorwort zu einem Band der „Geschichtsblätter“, in dem er nicht betont, die Arbeit des Vorstands sei „satzungsgemäß“. Mehrfach führt er als satzungsgemäße Aufgaben des Vereins die Quadriga „Sammeln“, „Bewahren“, „Erforschen“, „Vermitteln“ auf, und er bekennt sich zu ihr, aber sie reicht ihm nicht. Er fragt, wozu das Sammeln, Bewahren, Erforschen und Vermitteln dienen soll. Dem Dritten Reich hat der Geschichtsverein seine Dienste unverhohlen angeboten. Als er den Reichsstatthalter in einem Schreiben vom 29. Oktober 1938 um einen Zuschuss zur Ausgestaltung des neuen Heimatmuseums bat, versprach er „höchste Einsatzbereitschaft im Sinne der Arbeit unseres Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler“. Mit der Ausstellung „Ahnenerbe“ im folgenden Jahr trat er den Beweis an, „lieferte“ er, um die heurige Redeweise eines Bundespolitikers zu übernehmen.

Das Ziel seiner Arbeit im und für den Geschichtsverein hat Willi Luh in immer neuen Anläufen bezeichnet. 1971 schreibt er, kraft ihres historischen Wissens „könnten Zeitgenossen als ‚Wissende‘ mit dem Blick auf das geschichtliche Gewordensein der Umwelt durch die heimische Landschaft gehen und sich infolgedessen sowohl der ständigen Veränderung als auch der möglichen und sinnvollen Veränderbarkeit ihrer Lebensbedingungen bewusst werden“. 1971! Sie, Herr Cott, und wir alle erkennen hier frühes ökologisches Denken! Zehn Jahre darauf hofft Willi Luh, historisches Wissen vermöge vielleicht „Weisen alternativen Denkens und Handelns freizusetzen, die die Gedanken an die Flucht aus unserer Welt bändigen und Standhaftigkeit samt Problemlösungsverhalten ermöglichen helfen“. Vielleicht! In späteren Äußerungen nimmt er deutlich Abstand von Gedanken „an und über die Heimat“, die 1928 in der ersten Nummer der „Büdinger Heimatblätter“ als „Urquell aller Dinge“ bezeichnet wurde, Gedanken, die, wie er bemerkt, in der Nachkriegszeit noch virulent waren. Er sieht „eine Zäsur von Peter Nieß zu Willi Luh“. Dazu schreibt er 1988, in den „Geschichtsblättern“ habe sich nach und nach die Auffassung durchgesetzt, „Einsichten in die Mechanik und Dynamik gesellschaftlicher Prozesse der Vergangenheit, in ihre Widersprüche, in ihre versäumten Gelegenheiten, in die in ihnen wirkenden Kräfte zu vermitteln. Aus diesen Einsichten nützliche Informationen für das Urteilen, Entscheiden und Handeln in gesellschaftlichen Prozessen der Gegenwart zu ziehen“.

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, sagt Kant, und die Aufklärer sind frohen Mutes, dass dieser „Ausgang“ gefunden werden kann. Sie glauben an den Fortschritt durchaus nicht nur in Wissenschaft und Technik. Ein Autor des späten 18. Jahrhunderts spricht seinen Zeitgenossen eine „edlere und mildere Denkungsart“ zu als ihren Vorfahren vor einigen Jahrhunderten, die eigentlich noch Barbaren gewesen seien, und glaubte an eine weitere Veredlung des Menschengeschlechts. Der deutsche Beitrag zur Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, aber auch tägliche Erfahrungen, die jeder Aktive in der kleinen und großen Welt, im Klassenzimmer wie im politischen und gesellschaftlichen Leben macht, stützen diesen Optimismus nicht durchweg. So auch bei Willi Luh. 1996 redet er die Leser der „Geschichtsblätter“, überwiegend also die Mitglieder „seines“ Vereins, nicht ohne Melancholie an. Er bekennt sich als „Anhänger einer ‚tragischen‘ Geschichtsauffassung vom Scheitern des Menschen und der Prozesshaftigkeit der Geschichte“. Er fordert eine „kritische Geschichtsbetrachtung“ mit dem Ziel „des Verstehens von Scheitern, der Respektierung des Anderen und Fremden sowie des Lernens für Gegenwart und Zukunft“. Sein Motto, ich möchte beinah sagen: seine Losung blieb: „Die Vergangenheit in der Gegenwart für die Zukunft bewahren“ – sicher nicht nur in der Kopfzeile seiner Briefbögen, sondern in seinem Kopf. Skeptische Betrachter meinen, das einzige, was man aus der Geschichte lernen könne, sei, dass die Menschen nichts aus ihr lernten. Zu ihnen zählt Willi Luh nicht, er schreibt die Möglichkeit des Lernens nicht in den Wind.

Indem er eine kritische Geschichtsbetrachtung fordert, ist er ganz nah bei der zweiten von Nietzsches „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Nietzsche findet, die Historie gehöre dem Lebendigen „in dreierlei Hinsicht“. Als Tätiger und Strebender entnehme er ihr „das Große, das einmal war“. Als „Bewahrender und Verehrender“ blicke er mit Liebe und Treue dorthin zurück, woher er komme, als „Leidender und der Befreiung Bedürftiger“ brauche er die Kraft, die Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, indem er sie „vor Gericht ziehe“. Nietzsche spricht von der monumentalischen, der antiquarischen und der kritischen Art der Historie. Er entscheidet sich nicht für eine von ihnen als die „wahre“, sondern lässt alle drei koexistieren.

Aber nun, meine Damen und Herren, wie steht es mit der Ordnungsmacht eines Vorsitzenden des Büdinger Geschichtsvereins? Sie hängt davon ab, ob er weiß, was er will, und ob er seine Mitstreiter von dem überzeugen kann, was er will. Das lässt sich für Willi Luh bejahen. Sie, diese Ordnungsmacht, ist aber begrenzt durch die Mittel, die ihm zur Verfügung stehen. Für das „Sammeln“ und „Bewahren“ von Objekten benötigt er Platz, Raum, professionelle bezahlte Hilfe, für die Ergebnisse des „Forschens“ ein Publikationsorgan. Die eigenen Mittel, Mitgliederbeiträge und dann und wann eine Spende, reichen dafür bei weitem nicht aus. Sein Amt macht ihn auf immer zum Bittsteller, und die öffentlichen Hände, auf die sich sein Blick richtet, schließen, verschließen sich gern. Er braucht ein „satzungsgemäßes“ Beharrungsvermögen, ich könnte auch sagen, ein biblisches: ich verweise auf Lukas 11, 8! Auf unsern Fall angewendet: den öffentlichen Menschen so lange auf die Nerven gehen, bis sie ihre öffentlichen Hände doch ein wenig öffnen.

Wer wie Willi Luh kritische Geschichtsbetrachtung verlangt, schafft sich andere Probleme. Schon grundsätzlich: wer über die Vergangenheit richtet, muss damit rechnen, dass ihm widersprochen, seine Kompetenz vielleicht überhaupt in Zweifel gezogen wird. Seine ehrenamtlichen Mitarbeiter kann er nicht auf den eigenen Kurs einschwören. Er kann nicht einmal, wie Willi Luh 1988 schreibt, Beiträge bestellen oder in Auftrag geben. Schon aus finanziellen Gründen nicht: die Beiträger arbeiten zwar hoffentlich nicht „umsonst“, aber kostenlos. Er muss also manches aufnehmen, was er nicht als „kritisch“, sondern doch eher als „monumentalisch“ und vor allem als „antiquarisch“ ansieht.

Darunter hat er, scheint mir jedenfalls, nicht sehr gelitten. Gelitten hat er 2004/2005 im Konflikt mit dem Magistrat um die Nutzung dieses Hauses. Über Details möchte ich heute in diesen heil‘gen Hallen schweigen; auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser. Nur eine Randbemerkung sei erlaubt. In Ladengeschäften war damals die Grafik eines Büdinger Künstlers zu sehen, die Willi Luh bis zum Hals im Wasser zeigte, nicht als rüstigen Schwimmer, sondern eher als Schiffbrüchigen. Ein Bundeskanzler, der in einer politischen Karikatur so angegangen würde, hätte es zu ertragen. Aber ein ehrenamtlich Tätiger in einer kleinen Stadt wie dieser? Mir schien hier die Grenze des Anstands überschritten. Es charakterisiert Willi Luh, dass er in dieser Situation weder unterging noch die Flinte ins Korn warf. Die Stadtverordnetenversammlung stand ihm zur Seite.

Viereinhalb Jahrzehnte hat Willi Luh, von der Tatkraft und dem praktischen Sinn seiner Frau bis zu ihrem Tod unterstützt, in diesem Hause und weit darüber hinaus gewirkt. Uns, den Vereinsmitgliedern, hat er seine Agenda regelmäßig vorgestellt und erläutert – in Rundbriefen, die, den Zumutungen der elektronischen Datenverarbeitung trotzend, allmählich zu Kultobjekten wurden. Immer wieder, mit Verstand und List, die Gunst einer festlichen Stunde wie die Anwesenheit eines Ministers nutzend, brachte er vor, was ihm wichtig war. Bei jeder Gelegenheit äußerte er ostinato seine Forderung nach der „Museumsinsel“. Mit großer Energie, mit großer Beharrlichkeit hat er in der Zeit, die ihm gegeben war, die Sammlungen gemehrt, zahlreiche Ausstellungen, anspruchsvolle Vorträge und Fahrten geboten, die „Geschichtsblätter“ fortgesetzt und so das Gesicht dieser Stadt mitgeprägt.

„Er hat Vorschläge gemacht. Wir haben sie angenommen.“ Das ist Bertolt Brechts Formulierungsvorschlag in eigener Sache, gerichtet an eine Nachwelt, die sich seiner erinnern möchte. Auch Willi Luh hat Vorschläge gemacht. Manche haben wir angenommen. Das ist viel für Büdingen.

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