Schlossgasse 15, Rektoratshaus
Walter Nieß:
Schon die starken, beinahe klobig zu nennenden Vorlagesparren am Giebel zur Sattlergasse lassen erkennen, dass wir es hier mit einem gotischen, spitzen Dachverband zu tun haben. Die Vorlagesparren setzen sich außen mit dem Fußende auf die starken Pfettenköpfe, ebenso wie beim Eckertschen Haus (Urhaus) in der Erbsengasse der Neustadt. Eine ganz steife Hohlkehle, die beinahe als Schräge wirkt, dient zur Zierde der Vorlage.
Auch im Innern des Dachstockes hat man sofort den Eindruck hohen Alters. Die Holzverbindungen zwischen Kehlbalken und Sparren, Kappen, Gefachen und Platten usw. sind als Schwalbenschwanz-Verbindungen ausgeführt und mit starken Holzkeilen gesichert.
Die Mittelpfosten der Dachbinder gehen in der üblichen Weise bis über den Hahnenbalken durch. Die Neigung des Daches beträgt fast 60 Grad. Die Balkenköpfe sind winklig abgeschnitten. Der Sparren sitzt 20 cm zurück, ein später gotischer Aufschiebling bewirkt den Ausgleich im Bruch des Daches. Die Sparren sind vom Giebel aus rechts unten fortlaufend mit römischen Zahlen gezeichnet: I (Giebel), II, III, IIII, V, VI, VII usw.
Am Hahnenbalken des 15. Sparrens befindet sich oben links die Nr. XV. Die Zeichen der Sparren hat man auch auf die Binder übertragen. Der Bund Nr. 2 trägt deshalb das Zeichen VII nach dem Zeichen des Bundsparrens. Die Bundpfosten, die man beim Aufschlagen zuerst braucht, hat man mit viereckigen Ausstrichen (Picken) gekennzeichnet. Mit den gleichen Zeichen sind auch die Sparren im Westbau der Remigiuskirche (dort Dendrodaten um 1442-48) markiert.
Das Fachwerk der beiden Giebel ist überaus sparsam mit Holz versehen. Die Streben sind schwach gekrümmt. Die Kopfstreben fehlen am Westgiebel, können aber entfernt worden sein. Am Ostgiebel, der einen spätgotischen Eindruck macht, sind die Kopfstreben erhalten. Neu sind allerdings die schrägen Streben auf den Kehlbalken rechts und links. Das Baudatum des Giebels dürfte um das Jahr 1500 anzusetzen sein.
Zur Geschichte des Rektoratshauses
Es handelt sich um ein altes Burgmannenhaus, von dem die Akten bereits im frühen 15. Jahrhundert berichten. Die Jahreszahl 1560 auf dem Erker gibt nur dessen Einbau an. Beim Umzug des Pfarrers aus dem Großendorf in die Stadt Büdingen im Jahre 1490 wird es als Pfarrhaus eingerichtet und dient diesem Zweck bis zum Jahre 1763, was viele Baurechnungen der Büdinger Präsenz, der Verwaltungsstelle des Büdinger Kirchenbesitzes, belegen. 1763 kauft die Präsenz das Freihaus bei der Kirche, das von da an als Pfarrhaus dient.
Nach 1763 zieht in das alte Pfarrhaus in der Schlossgasse die Schule ein, und erst zu diesem Zeitpunkt erhält das Haus den Namen Rektoratshaus. Einer der bekanntesten Büdinger Schulmänner, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts an der Büdinger Schule wirken, ein Rektor Ludwig Albert Nies, mag Grund der Namensgebung sein. Rektor Nies ist nicht verheiratet und nach seinem Tode übernimmt die Büdinger Witwenkasse im Jahre 1766 die Regelung seines beträchtlichen Nachlasses. Nach deren Protokollen sind die beiden Töchter seines Bruders, des Chirurgen Nies aus Herborn, die Erben. Das Rektoratshaus steht unter der Verwaltung der Büdinger Präsenz, bis sie das Anwesen nicht mehr benötigt und in Privatbesitz verkauft.
Am 18.11.1831 wird in diesem Haus der Büdinger Ehrenbürger Prof. Dr. Jur. Friedrich Wolfgang Karl Thudichum geboren. Er ist ebenfalls ein Sohn des Professors Dr. Georg Thudichum und studiert 1849-1852 in Gießen. 1858 habilitiert er dort als Privatdozent und wird 1862 zum außerordentlichen Professor der Rechte nach Tübingen berufen, dort 1870 zum ordentlichen Professor ernannt.
Quelle: Dr. Walter Nieß: Burgmannenhäuser der Schlossgasse, Büdinger Häuserbuch I. Band, Geschichtswerkstatt Büdingen 2007.
Historische Ansichten, Quelle: Geschichtswerkstatt Büdingen, u.a. Bildband: Büdingen in historischen Ansichten, 2020