Karl Heuson, ein verdienstvoller Heimatforscher und wir

Rede anlässlich der Ausstellung „Wie das Museum zu seinem Namen kam“ zum 60. Todestag von Karl Heuson im Historischen Rathaus der Stadt Büdingen am 21. Februar 2013
von Dr. Volkmar Stein

Werte Mitglieder des Geschichtsvereins,
meine Damen und Herren,

wie das Museum zu seinem Namen kam, wissen Sie natürlich alle. Und wer Karl Heuson war, auch. Im Prinzip. Aber sechzig Jahre nach Heusons Tod, eine Ausstellung zu ihm begleitend, soll und will ich ein wenig ins Detail gehen. Wie es überhaupt zu diesem Museum kam, werde ich schildern, zum Lobe Karl Heusons reden und Ihnen schließlich einige, auch kritische, Gedanken über ihn und den Leitbegriff seines Denkens und Handelns zum Nach- und Weiterdenken vortragen.

Der Geschichtsverein wollte „Altertümer, Kunstwerke, Drucksachen und volkskundliches Material“ sammeln – so heißt es in seiner Satzung von 1911. Begonnen hatte er damit aber sogleich nach seiner Gründung 1906 – der Oberlehrer Ludwig Wilhelm Fahz nahm sich als erster dieser Aufgabe an, und die Büdinger waren wohl von Anfang an bereit, dem Verein „Altertümer“ aus ihrem Besitz zu überantworten.

Aber wohin damit? Schon für das bloße Aufbewahren, erst recht für eine museale Präsentation brauchte man Raum. Ihn zu schaffen, also selbst ein Gebäude zu errichten und zu unterhalten, hätte die Kräfte des kleinen Vereins weit überfordert. Der erste Aufbewahrungsort war das Gymnasium – vermutlich, weil dessen Direktor, Geheimrat Dr. Gustav Mohr, Vereinsvorsitzender war. Das war wohl nur als Provisorium gedacht. Mehr als drei Jahrzehnte führte der Verein eine nomadische Existenz und wurde von einem Provisorium zum nächsten komplimentiert oder auch bugsiert. 1909 finden wir seine Sammlungen im Schloss – und die Zeitung, die uns das mitteilt, meldet gleichzeitig, die Rentkammer habe diesen Raum gekündigt, das „Museum des Büdinger Geschichtsvereins“ sei nun „im Nebenraum des Presbyteriums untergebracht“[1]. Im Jahr darauf, genau am 8. Januar 1910, wurde der erste mir zugänglich gewordene Brief verfasst, in dem der Verein – hier vertreten durch Regierungsassessor Rudolf Schäfer – die Stadt um Räume für seine Sammlungen bat. Die Stadt, die an der Gründung des Vereins weder institutionell noch personell beteiligt war, weigerte sich nie, ihm zu helfen. Aber lange beschränkte sie sich darauf, ihn zwischen den wenigen städtischen Gebäuden, die in Frage kamen, jedoch allesamt anderen Hauptzwecken dienten – den Schulen, dem Historischen Rathaus, damals ja Sitz der Verwaltung, und dem Eberlingschen Haus in der Rathausgasse – jeweils dorthin zu verschieben, wo gerade etwas frei war. 1911 zog der Verein in das soeben errichtete neue Schulgebäude in der Brunostraße ein, bekam von der Stadt aber sogleich zu hören, er dürfe zwei Räume benutzen, „solange letztere nicht für den Schulunterricht benötigt werden“. Seit dem 2. Juni 1912 konnte er seine Sammlungen der Öffentlichkeit zugänglich machen – „allsonntäglich von 11 ½ bis 12 ½ Uhr“[2].

Gerade in dieser Zeit fragte das Kreisamt bei allen Gemeinden an, wie es mit Museen stehe. Die hessische Großwetterlage war nämlich nicht ungünstig. Seit dem frühen 19. Jahrhundert hatten die Büdinger Stadtväter in ihrem Eifer, Kosten zu vermeiden, das Mehltor, das Karlstor und die Pforten abgeräumt. Im geeinten Deutschland, im Großherzogtum der Gründerzeit war es wohl vor allem Modernisierungseifer, der unter dem architektonischen Erbe „aufzuräumen“ begann. Das rief nun aber Rettungsinitiativen von Geschichtsvereinen auf den Plan. „Die Politik“ reagierte und leistete gesetzliche Pionierarbeit: als erster deutscher Staat schuf das Großherzogtum 1902 ein modernes Denkmalschutzgesetz. In dieser Diskussion war das Auge des Staates offenbar auch auf das mobile Erbe gefallen, und darum erkundigte er sich nach Museen. Der Bürgermeister konnte dem Kreisamt berichten, es gebe ein Museum des Geschichtsvereins, das von Archivrat Dr. Pius Wittmann geleitet werde. Letztere Information habe ich sonst nirgends gefunden, unglaubwürdig ist sie aber nicht. Wittmann, Jahrgang 1849, ein angesehener Wissenschaftler aus dem bayerischen Archivdienst, war seit 1909 Leiter des fürstlichen Archivs. Mit Billigung seines Dienstherrn könnte er die Museumsleitung ehrenamtlich übernommen haben. Sein Interesse an „bürgerlichen“ Dingen bewies er auch, indem er 1914 die Festschrift zum Jubiläum der Schützengesellschaft herausgab. Aber lange kann er als Museumsleiter nicht tätig gewesen sein.

Denn der Erste Weltkrieg, der die nationalen Ressourcen und die Zivilbevölkerung in bisher unbekanntem Maß in Anspruch nahm, unterbrach die Tätigkeit des Vereins wohl fast vollständig. Die Sammlungen wanderten „in ein kleines Kämmerchen im alten Schulhaus“, der Moller-Schule auf dem „Damm“. 1920 bat der Verein die Stadt erneut um zwei nebeneinanderliegende Räume – aber es ist mir nicht klar, ob er sie bekommen hat. Denn noch im Dezember 1922 lud Mohr „alle, die das Weiterbestehen des Vereins wünschen“, zu einer Versammlung im Gymnasium ein. Es muss um ihn, den Verein, also nicht gut gestanden haben. 1925 stellte die Stadt der Gewerbeschule für dringenden Bedarf zwei Räume zur Verfügung, die aber noch gar nicht frei waren, sondern von den bisherigen Benutzern erst geräumt werden mussten – dem Kreisvermessungsamt und dem Geschichtsverein. 1926 klagte Mohr, die Sammlungen seien in einem Raum nur gestapelt und darum nicht zu besichtigen. Pläne, wieder ins Schloss auszuweichen oder das Eberlingsche Haus sogar als Ganzes zu beziehen, zerschlugen sich am Ende der zwanziger Jahre, in der Zeit der Weltwirtschaftskrise. Der Verein landete wieder im Rathaus, erst notdürftig, dann, 1934/35, in drei Räumen, die für diesen Zweck im Dachgeschoß hergerichtet worden waren. Die Öffnungszeiten waren übrigens noch karger als 1912 – „bis auf weiteres am 1. Sonntag jedes Monats von 11 bis 12 Uhr“[3].

Aber dann fand sich die „große Lösung“, und mit ihr wird unser Blick auf Karl Heuson gerichtet. Lassen Sie uns zunächst auf sein vorheriges Leben zurück- und auf sein späteres vorausblicken! Er wurde am 24. November 1868 als Sohn des Landwirts Heinrich Heuson in Wenings geboren, wo er auch die Volksschule besuchte. Dort fiel er wohl als ein selten gescheiter und fleißiger Junge auf. Denn der Pfarrer bereitete ihn auf den Besuch des Friedberger Lehrerseminars vor, in das er 1885 aufgenommen und aus dem er drei Jahre später nach bestandener Prüfung entlassen wurde. Mit zwanzig war er ausgebildeter Lehrer. Er unterrichtete nacheinander an fünf Schulen, bevor er 1905 nach Lorbach versetzt wurde, wo er den gesamten Rest seiner Dienstzeit, bis 1932, verbrachte. Das waren alles einklassige Volksschulen auf dem Lande, und es wird berichtet, dass er ehrenvolle Berufungen an größere städtische Schulen ablehnte.

Die ihn persönlich kannten und würdigten, vor allem Peter Nieß, auch Heinrich Prinz und Lothar Döring[4], haben über ihn nur Positives zu berichten. Nicht nur in Bezug auf seine Arbeit – großen Fleiß, rastlose und selbstlose Tätigkeit noch im hohen Alter, strenge Beschränkung auf gesicherte Fakten sagen sie ihm nach –, sondern vor allem in Bezug auf seinen Umgang mit Menschen. Bescheiden sei er gewesen, humorvoll, eine heitere Natur, die für andere immer ein aufmunterndes, fröhliches Wort gehabt habe, lauter, treu, gerecht, ausgleichend, zu tätiger Hilfe bereit – kurz: ein gütiger, ein guter Mensch. Auch wenn wir das literarische Genre berücksichtigen – Würdigungen zu runden Geburtstagen oder post mortem nähern sich gern reinen Tugendkatalogen an –, bleibt davon gewiss genug übrig. Auf andere, zeitgebundene Attribute werde ich später noch kurz zu sprechen kommen.

Verheiratet war er seit 1894, und er hatte zwei Söhne, von denen Heinrich in den höheren Verwaltungsdienst ging, Karl jun. ebenfalls Lehrer wurde. Beide scheint Klio, die Muse der Geschichte, übergangen zu haben. Das Interesse von Karl Heuson sen. hingegen hatte sie schon früh geweckt. Die Liebe, die Leidenschaft zur Geschichte sprang über auf seinen Enkel Hans-Velten, einen wunderbaren Geschichts- und Geschichten-Erzähler, fleißigen Archivar und mal milden, mal zornigen Denkmalpfleger, den ich in seiner zweiten Lebenshälfte kennenlernen durfte; Petra Lehmann-Stoll hat ihn in der noch laufenden Ausstellung als ein Mitglied der Quadriga Büdinger Geschichtsforscher gewürdigt.

Karl Heuson forschte in den Adelsarchiven von Büdingen, Birstein und Gedern, er veröffentlichte Aufsätze und größere selbständige Arbeiten, er gab 1914 im Auftrag der Kreisschulkommission das „Heimatbuch für den Kreis Büdingen“ heraus, seit 1908 hielt er ungezählte heimatkundliche Vorträge an vielen Orten des Kreises.

1910 nahm er eine entsagungsvolle ehrenamtliche Arbeit auf: in anderthalb Jahrzehnten ordnete er 64 von 75 Gemeindearchiven. Ordnung gilt manchen, vor allem jüngeren Menschen als etwas Altmodisches, ja Reaktionäres. Ein noch immer bekannter Politiker würde sie zu den „Sekundärtugenden“ rechnen. Aber wer je – bei sich selbst oder bei anderen – in einer größeren Menge von Gegenständen etwas gesucht hat, der weiß, dass, wie so oft, auch hier Schiller recht hat. In der „Glocke“, die vielleicht einige von Ihnen noch im Kopf und auf der Zunge haben, nennt er die „heil’ge Ordnung“ eine „segensreiche Himmelstochter, die das Gleiche frei und leicht und freudig bindet“. Wer zum Beispiel im Büdinger Stadtarchiv freudig findet, was er gesucht hat, verdankt das auch der von Karl Heuson geschaffenen Ordnung, seinem Aktenplan. 1914 wurde er offiziell zum „Kreisurkundenpfleger“ ernannt.

Bei Grabungen und in Fragen des Denkmalschutzes hatte er ein wichtiges Wort mitzureden. Ein weiteres großes Verdienst erwarb er sich als Editor volkstümlicher Monatsschriften, in denen Artikel zu heimatgeschichtlichen Themen veröffentlicht wurden. In Wenings-Merkenfritz gab er seit 1920 gemeinsam mit Pfarrer Karl Michel die Monatsschrift „Der Heimatbote. Evangelisches Gemeindeblatt“ heraus. Darin veröffentlichte er selbst in Fortsetzungen die „Geschichte des Gerichts Wenings“. Sein Geburtsort ernannte ihn schon 1921 zum Ehrenbürger. Und 1928 gab er, zunächst gemeinsam mit dem Gymnasiallehrer Dr. Bernhard Lade, der aber bald von Büdingen nach Schlitz versetzt wurde, die „Heimatblätter für den Kreis Büdingen“ heraus. Sie erschienen als Beilage zum „Büdinger Allgemeinen Anzeiger“, hatten jedoch ein eigenes Format und eine eigene Paginierung und sollten separat gebunden werden. Karl Heuson verfasste für sie zahlreiche Beiträge zur Archäologie, Geschichte, Kulturgeschichte und Volkskunde. Über das Marktrecht schrieb er, das Untertor, das Schulwesen, ausgestorbene Berufe, den „Bauernkrawall“ von 1830 – aber auch über Aulendiebach und Calbach, über „ausgegangene Dörfer“, er erzählte Sagen aus dem Vogelsberg nach, er deutete die Zeit der „zwölf Nächte“. Bis 1940 konnten die Heimatblätter erscheinen. Und es sagt viel über ihn, dass er ihre Auferstehung nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichte, indem er sich im mehr als biblischen Alter von 83 noch einmal bereit erklärte, die Herausgeberschaft zu übernehmen. Daran arbeitete er bis zum Tod, der ihn am 16. Januar 1953 gegen acht Uhr abends ereilte. Die Stadt nahm von ihm, der seit 1948 ihr Ehrenbürger war, respektvoll und dankbar Abschied.

Karl Heuson verkörperte jenen Typus des Volksschullehrers, der an seinem Dienst- und Residenzort nicht nur die Kinder unterrichtete, sondern Botschafter und Vermittler von Kultur war. Nur zwei weitere Büdinger Namen: aus dem neunzehnten Jahrhundert Wilhelm Flach, der vierzig Jahre lang den „Liederkranz“ dirigierte, aus dem zwanzigsten Wilhelm Pebler, Dirigent des evangelischen Kirchenchors, Organist und Pianist – von seinen kommunalpolitischen Aktivitäten zu schweigen.

Karl Heuson war „verdienstvolles Ehrenmitglied[5]“ des Lorbacher Gesangvereins „Eintracht“, für den er wohl hin und wieder als Dirigent einsprang, wenn Not am Mann war. Aber den größten Teil seiner außerberuflichen Arbeitskraft widmete er, wie schon bisher gezeigt, der Geschichte. Mitglied des Geschichtsvereins, der sich aus einem Akademikerstammtisch entwickelte, war er seit 1907. 1927 wurde er Vorstandsmitglied. 1934 legte Geheimrat Dr. Mohr den Vorsitz aus Altersgründen nieder. Sein Nachfolger wurde Regierungsrat Georg Fendt, Leiter des Büdinger Finanzamts, der nun seinerseits – das Führerprinzip wurde auch auf Betriebe und Vereine angewandt – Karl Heuson zu seinem Stellvertreter und Bürgermeister Emil Diemer zu einem weiteren Vorstandsmitglied ernannte. Nachdem Fendt überraschend früh, schon am 6. Mai 1937 gestorben war, wurde Karl Heuson sein Nachfolger. Und ein Jahr später stand das Museum als Gebäude! Die Planung dafür hatte allerdings vor seiner Amtsübernahme begonnen; aus den Verwaltungsakten geht hervor, dass eine Entwurfszeichnung des Stadtbaumeisters schon am 4. Mai 1937 vorlag.

Aber Karl Heuson mag die Sache schon vorangetrieben haben, bevor er den Vorsitz des Geschichtsvereins übernahm. In einer Würdigung, die Peter Nieß 1938 zu seinem 70. Geburtstag verfasste, sprach er von einem „glücklichen Verhältnis“ zwischen Diemer und Heuson[6]. Er wird diese Bemerkung nicht aufs Geratewohl gemacht, sondern sich auf Mitteilungen Heusons und eigene Beobachtungen gestützt haben, die er weder hier noch an anderer Stelle näher bezeichnete. Dass aber ein „glückliches Verhältnis“ zwischen dem Büdinger Bürgermeister und dem Repräsentanten des Geschichtsvereins nicht von rein anekdotischer Bedeutung, sondern für das Gedeihen des Vereins wichtig ist, dafür sind wir alle, meine Damen und Herren, Zeugen.

Die Stadt war nun bereit und in der Lage, dem Geschichtsverein für das Museum ein eigenes Haus zu bauen. Das Kaisersche Anwesen in der Kirchgasse war baufällig und musste abgerissen werden. Hier wurde nun die Stadt tätig: sie erwarb das Grundstück und ließ von Stadtbaumeister Karl Gustav Reibert ein Museumsgebäude in Fachwerk entwerfen. Fotos vom Richtfest am 5. August 1938 zeigen, dass er den Buntsandsteinsockel des Vorgängerbaus verwendete. Im Haushaltsplan für 1938 waren die Kosten für den Erwerb des Grundstücks, den Abriss des Vorgängerbaus und den Neubau mit 22 000 RM veranschlagt, von denen das Land 3000 RM übernahm[7]. Schon am 25. November dieses Jahres war das Gebäude fertig und konnte eingeweiht werden. Emil Görner, Kreisleiter der NSDAP, und Kreisdirektor Dr. Hans Becker waren dabei[8]. Benannt wurde es nach Karl Heuson, der an diesem Tage – wie offenbar alle meinten – seinen 70. Geburtstag feierte[9]. Die Namensgebung zeigt, dass man seine Verdienste um dieses Haus hoch einschätzte. Eingerichtet war es 1938 freilich noch nicht. Dafür brauchte man – und das war natürlich in vorderster Linie wieder Heuson – noch ein und ein Vierteljahr. Am 13. Januar 1940 übergab Gauleiter und Reichsstatthalter Jakob Sprenger, der mächtigste Mann in Hessen, das Museum seiner Bestimmung. Karl Heuson führte ihn durch das Haus[10].

Es wird Ihnen aufgefallen sein, meine Damen und Herren: das Wort „Heimat“ kommt in der Sprache Karl Heusons und „seiner Zeit“ häufig vor – noch 1951 nennt er das nun fortgesetzte Organ, wie selbstverständlich, wieder „Heimatblätter“ und redet seine Leser als „Heimatfreunde“ an. Der Nachruf von 1953 im „Kreisblatt“ ist überschrieben „Ein Leben für die Heimat“.

Das ist ein altes, schönes, eigentlich unübersetzbares Wort. Im Wörterbuch der Brüder Grimm steht geschrieben, dass es verschiedene, sich konzentrisch verengende Bedeutungen hat: es kann erstens „das Land oder auch nur der Landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden Aufenthalt hat“, sein, zweitens „der Geburtsort oder ständige Aufenthalt“, drittens, im Bayerischen „das elterliche Haus und Besitztum“. Heimat bietet Sicherheit, Geborgenheit, Identität. Dem, der Innsbruck „lassen“ muss, ist „all Freud“ genommen, denn er ist nun im „Elend“. Das Wort „Elend“ hat in unserer Sprache, pardon, die Grundbedeutung „Ausland“. In der Zeit der Globalisierung und der Ballermann-Meilen kaum vorstellbar und vor allem politisch unkorrekt! Sprachlich säubern lassen sich die erwähnten Verse, mag Heinrich Isaac sie auch noch so schön in Töne gesetzt haben, kaum; wenn wir den Forderungen der politisch Korrekten folgen, müssen wir das Lied aus unserm Gedächtnis tilgen. Aber lassen wir das Wort „Elend“ zurück, wenden wir uns wieder der „Heimat“ zu! Wer von ihr spricht, tut es oft, weil er sie verloren hat, aus Heimweh.

Aus der Heimat hinter den Blitzen rot,
Da kommen die Wolken her.
Aber Vater und Mutter sind lange tot –
Es kennt mich dort keiner mehr.[11]

Dieses schöne alte Wort und diejenigen, die sich in seinem Namen sammeln und versammeln, sind politisch nicht ungefährdet. Sie sind in Gefahr, „Heimat“ mit zeitloser, unschuldiger Natur gleichzusetzen und sich selbst mit ihr zu entlasten, sich unangenehme Erinnerungen an unangenehme Zeiten zu ersparen. Sie sind in Gefahr, sich aus dem einfachen und sympathischen Stolz auf das Land, das sie kennen und lieben, dem sie einen Teil ihrer Identität zuschreiben, in jene Verblendung locken zu lassen, die der Minister für „Volksaufklärung und Propaganda“ im Sinn hatte. Heutige Historiker bezeichnen den Vorgang kühl mit dem Gegensatzpaar „Inklusion – Exklusion“: das Eigene, alles, was deutsch ist oder dafür gehalten wird, wird über alle Maßen erhöht, die „Volksgemeinschaft“ gepriesen, das Fremde oder aus der Fremde Gekommene und sogar diejenigen, welche die Wertmaßstäbe für ihr eigenes Tun und Lassen jenseits des Nationalen gewinnen, als „vaterlandslose Gesellen“, „Ultramontane“, vor allem Juden von der Teilhabe an der nationalen Identität ausgeschlossen, ausgegrenzt, in der „Endlösung“ ausgemerzt.

Karl Heuson ist von dieser Gefahr – ich sage es vorsichtig – nicht unberührt geblieben. Zu seinem 70. Geburtstag verfasste sein späterer Nachfolger Peter Nieß, der ihn seit langem kannte und mit ihm eng zusammenarbeitete, in den „Heimatblättern“ die mehrfach erwähnte Würdigung, in der wir Leitvokabeln des Dritten Reiches wiederfinden. Heusons gesundes und starkes Leben sei aus „Blut und Boden seiner Vogelsberger Heimat“ gewachsen, lesen wir da. Und später, in demselben Aufsatz: „Mit Begeisterung und jugendlichem Schwung hat er die nationalsozialistische Revolution tätig miterlebt und die sieghafte Erweckung des deutschen Volkstums und die Besinnung auf seine unzerstörbaren Kräfte wahrhaft begrüßt“. Das ist, wie gesagt, der Originalton von Peter Nieß, nicht Karl Heuson. Aber in die Irre führt er sicher nicht; Nieß hätte das nicht geschrieben, wenn Heuson ganz anders gedacht hätte. Schon 1921 hatte Heuson in der Lokalzeitung ein Gedicht „Gestern und heute“ veröffentlicht, worin er, ganz ohne Rücksicht auf Regelmäßigkeiten des Reims oder des Rhythmus, auf die konservative Poeten sonst großen Wert legen, seiner Klage über die Niederlage von 1918 freien Lauf lässt. Er klagt nicht nur, er klagt die Gegner an, die auf die Deutschen „höhnische Blicke“ werfen, ihr Haus „erbrechen“ und sie durch „schrankenlose Willkür“ zu „Knechten“ machen, zu „Bettlern“. Er appelliert an die Deutschen, „geeint“ zu bleiben.

Liebt eure Heimat, eure Wälder,
denkt stets zuerst ans Vaterland…
Und pfleget deutsches Lied und deutschen Geist;
Dann mögen uns’re Feinde pochen,
Dann mögen sie im Zorn vergehn,
Denn Deutschland wird nicht untergehn.[12]

Das ähnelt bereits dem „markigen Führerwort“, das er, Heuson, 1938 in den Balken über dem Eingang des Museums in der Kirchgasse schnitzen ließ[13]. Das Gedicht gab freilich eine in Deutschland nach 1918 weit verbreitete Stimmung wieder; in Büdingen waren solche Töne in Abiturientenaufsätzen und, besonders 1923, nach dem Einmarsch der Franzosen ins Ruhrgebiet, von der Kanzel zu hören. Und 1933 kam einer, der die Schmach von 1918 zu tilgen versprach. Was sollte Heuson dagegen haben? Natürlich passte er die Arbeit des Geschichtsvereins den Interessen nationalsozialistischer Kulturpolitik an – er hätte gar nicht anders gekonnt[14]. Am 7. Mai 1939 zum Beispiel eröffnete Kreisleiter Emil Görner die Gaukulturwoche mit einer „Morgenfeier“ im Fürstenhof, nachmittags gab der Musikzug der SA ein Standkonzert – und danach eröffnete Bürgermeister Emil Diemer im unteren Rathaussaal die Ausstellung „Ahnenerbe“, worin der Geschichtsverein u. a. historische Möbel, textile und keramische Kunst zeigte. Ein paar Tage später, immer noch im Rahmen der Gaukulturwoche, hielt die SA eine Feierstunde unter dem Motto „Männer, Kämpfer, Soldaten“[15].

Keines der Kernelemente der nationalsozialistischen Ideologie ist neu. Alle waren sie schon im Kaiserreich virulent, zum Teil sogar in Parteien organisiert. Dass das deutsche Volk allen anderen überlegen und über sie (oder doch viele) zu herrschen berufen sei, dass die wichtigen Fragen mit „Blut und Eisen“, also mit militärischer Stärke, zu lösen seien, dass die Macht im Staate auf eine Person zu konzentrieren sei, dass von den Juden Unheil ausgehe und sie daher zu unterdrücken seien – das meinten und sagten im Kaiserreich Nationalisten, Alldeutsche, Militaristen, Antisemiten. Konservatives Denken oder ein Teil davon näherte sich dem Nationalsozialismus schon 1931 in der „Harzburger Front“ – ein anderer Teil bildete allerdings den Kern der Verschwörer des 20. Juli.

Der Würdigung zu Heusons 70. Geburtstag im November 1938 gab der Geschichtsverein „Proben aus dem Schrifttum des Jubilars“ bei. Einer ist „Die Juden“ überschrieben[16]. Heuson berichtet scheinbar nüchtern und neutral, die Juden seien keine Bürger gewesen, hätten kein städtisches Amt bekleiden, nicht in eine Zunft eintreten, keine landwirtschaftlichen Güter erwerben können. Damit vermittelt er die Überzeugung, es entspreche guter deutscher Art, die Juden auszuschließen.

Es überwiegen die Fragen. In welchem Maße hat sich Karl Heuson der Lehre und Praxis des Nationalsozialismus angenähert? Hat er bei der Einweihung des Museums im November 1938 daran gedacht, dass nur wenige Schritte entfernt, nur vierzehn Tage vorher am Tag der verordneten Pogrome eine 60-jährige Jüdin von einem 18-jährigen Metzgergesellen durch die Schlossgasse gejagt und misshandelt worden war? Wie nationalsozialistisch war die ständige Ausstellung, die er von 1940 bis 1945 im Heimatmuseum präsentierte? Hat er sich vom den Schandtaten des Regimes zumindest innerlich oder in vertrautem Kreise distanziert? Keine dieser Fragen kann ich beantworten. Jedenfalls bin ich weit davon entfernt, mich zum Richter über die Generationen aufzuschwingen, die jedes kritische Wort, jedes wahrnehmbare Abseitsstehen, von Widerstand zu schweigen, die berufliche Existenz, die Möglichkeit öffentlicher Wirkung, am Ende gar, als „Wehrkraftzersetzung“, das Leben kosten konnte.

An Karl Heuson befremdet mich vor allem sein Verhalten nach 1945. Keine Spur davon, dass er sich besonnen, innegehalten, gezweifelt hätte! Zum Beispiel im Geleitwort zur neuen Folge der „Heimat-Blätter“ vom März 1951. „Widrige Zeitumstände“, meint er, seien es gewesen, die das Erscheinen der Blätter ein Jahrzehnt verhinderten – das klingt, als spräche er von schlechtem Wetter. Und ohne Bedenken erklärt er, das „lebendige Wort“ der Heimatblätter sei „aus dem gleichen Geist wie in den ersten Jahrzehnten“ geboren[17]. Aber dazwischen war doch was – ein totaler Krieg, von den Deutschen entfesselt, eine totale Niederlage, die Deutschland an den Rand des Untergangs brachte. Diesmal gab es keinen Zweifel an der Kriegsschuld und an zahllosen staatlich legitimierten, inszenierten Verbrechen in Krieg und Frieden auch nicht. Mit Brecht gesprochen: die bleiche Mutter Deutschland saß besudelt unter den Völkern.

Drei Jahre nach Heusons Tod und nach einem Verlagswechsel der Lokalzeitung konnten die „Heimatblätter“ nicht mehr in der bisherigen Form erscheinen. Der Geschichtsverein ließ ihnen ein Periodikum folgen, das „Büdinger Geschichtsblätter“ heißt. Und das Heuson-Museum heißt seit seinem Umzug in dieses Historische Rathaus zu Beginn der Ära Luh „Regionalmuseum“ – da klingt nicht nur ein höherer, sondern vor allem ein kühlerer Anspruch durch. Willi Luh fordert eine „kritische Geschichtsbetrachtung“ mit dem Ziel „des Verstehens von Scheitern, der Respektierung des Anderen und Fremden sowie des Lernens für Gegenwart und Zukunft“. Einen Paradigmenwechsel könnte man das nennen. Das Wort „Heimat“ ist in den Verlautbarungen des Büdinger Geschichtsvereins fast spurlos verschwunden.

Es verdient aber, behutsam wieder aufgenommen und betrachtet, sein Bedeutungsraum, in zwei Richtungen erweitert oder besser ausgeleuchtet zu werden, auch in der praktischen Arbeit des Geschichtsvereins und des Museums. Oft, meist ist der Gedanke an Heimat ja, wie gesagt, rückwärts gewandt. Ernst Bloch hat seine Laufrichtung geändert, ihn ins Utopische gewendet. Wenn der schaffende, die Gegebenheiten umbildende Mensch das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet habe, so entstehe in der Welt etwas, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“[18] So endet sein „Prinzip Hoffnung“. Viele Künstler im deutschen Sprachraum gehen das Thema nach dem „Prinzip Realismus“ an. Das dreiteilige Film-Epos „Heimat“ von Edgar Reitz erinnert uns, wie nicht nur in Schabbach das Fachwerk mit Eternit zugedeckt wurde. Bedeutende Autoren schreiben eine nicht idyllische, nicht verklärende, kritische, illusionslose Heimatliteratur, – ein paar Namen: aus Österreich Franz Innerhofer, G. F. Jonke, Hans Lebert, Andreas Okopenko, Helmut Qualtinger, Robert Schindel, Peter Turrini und, löste man etwas Zuckerguss ab, Vea Kaiser, die kürzlich in diesem Raum gelesen hat, aus der Schweiz Max Frisch, aus Südtirol Josef Winkler, aus Deutschland Franz Xaver Kroetz, Martin Sperr und, ganz in unserer Nähe, Andreas Maier. In diese zweite Richtung weisen viele der programmatischen Sätze, mit denen Willi Luh, der als blutjunger Mann „unter die Soldaten“ musste und vom Krieg gezeichnet wurde, die von ihm betreuten „Geschichtsblätter“ begleitet hat, und viele Ausstellungen, die hier zu sehen waren.

Auch Siegfried Lenz – trotz „Suleyken“ – reflektiert den Begriff „Heimat“ kritisch. Einige von Ihnen, meine Damen und Herren, mögen Ende der siebziger Jahre seinen Roman „Heimatmuseum“ gelesen haben. Darin stellt er die Frage, wie in einer Zeit politischer Umwälzungen und Vertreibungen Tradition bewahrt werden kann. Sie stellt auch der Ich-Erzähler, der Teppichweber Zygmunt Rogalla aus Lucknow in Masuren (worin sich Lyck, der Geburtsort des Autors, leicht verhüllt). Er meint, dieses „dunkle, verschwiegene Land“ sei erst dann endgültig verloren, wenn sich niemand mehr daran erinnere. Sein Onkel Adam, Hobby-Archäologe, hat „gesammelt“ – wie Karl Heuson und der Büdinger Geschichtsverein insgesamt – und in Lucknow ein Heimatmuseum gegründet. Am Ende des zweiten Weltkriegs flüchtet Zygmunt Rogalla wie viele andere vor der sowjetischen Armee über die Ostsee nach Schleswig-Holstein. Es gelingt ihm, einen Teil der Bestände des Heimatmuseums zu retten und in Egenlund, der „neuen Heimat“, in einem Museum zu präsentieren, „nicht klagend, sondern klärend“, wie er selbst sagt. Aber schon das Programm der Eröffnung entgleitet ihm – der „Lucknower Heimatverein“ nimmt es in seine Hand. Dessen Sprecher sieht in dem Museum durchaus eine „stumme Anklage“, er redet von der „vorübergehend verlorenen Erde“. Bald darauf wird der ehemalige nationalsozialistische Statthalter von Lucknow zum Vorsitzenden des Lucknower Heimatvereins gewählt und sein Besuch und die Übernahme des Museums durch den Verein angekündigt. Die falschen Leute wollen es für ihre ideologischen Zwecke in Dienst nehmen. Weil Rogalla das nicht dulden will, macht er von seiner „letzten Freiheit Gebrauch“[19]. Er lässt sein eigenes Werk in Flammen aufgehen. Egon Günthers Verfilmung, zehn Jahre später, setzt das grandios ins Bild.

Trotzdem, lieber Herr Cott, tun Sie‘s nicht! So schlecht ist es bei uns in Büdingen um die politische Vernunft nicht bestellt. Sammeln Sie weiter, ordnen Sie, stellen Sie das Gesammelte immer neu aus! Erzählen Sie immer neu die Geschichte dieser guten kleinen Stadt, unserer Heimat, und der großen weiten Welt, so gut Sie, so gut wir sie begreifen! Karl Heuson wäre es zufrieden. Seine Sache geht weiter.

 

[1] Büdinger Allgemeiner Anzeiger (künftig: BAA) 24.7.1909

[2] BAA 1.6.1912

[3] BAA 30.11.1935

[4] Peter Nieß: Heimatblätter für den Kreis Büdingen Jg. 11 Nr. 11, November 1938, S. 45-47; Kreisblatt für den Kreis Büdingen 20.1.1953; Heimat-Blätter für den Kreis Büdingen Jg. 16 Nr. 2, März 1953, S. 3-8; Heimat-Jahrbuch des Landkreises Büdingen 1954, S. 71-73 – Heinrich Prinz: Heimat-Blätter für den Kreis Büdingen Jg. 16 Nr. 2, März 1953, S. 1-2 – Lothar Döring: Büdinger Geschichtsblätter Bd. VII (1970/71), S. 29-51

[5] BAA 3.5.1930

[6] Heimatblätter Jg. 11 Nr. 11, November 1938, S. 47

[7] Haushaltsplan 1938 im Stadtarchiv (künftig: StArch)

[8] BAA 23.11., 26.11.1938

[9] Eine Kuriosität, deren Ursachen ich nicht nachgegangen bin: Karl Heuson ist am 24. November geboren. 1938 ging man, ohne dass das Geburtstagskind widersprochen hätte, vom 25. November aus und zehn Jahre später die Stadt Büdingen in ihrer Urkunde über die Verleihung des Ehrenbürgerrechts auch noch. Peter Nieß hingegen nennt 1948 das korrekte Datum.

[10] BAA 12.1., 15.1.1940

[11] Joseph von Eichendorff, In der Fremde. In: Werke und Schriften, hg. v. Gerhart Baumann und Siegfried Grosse, Stuttgart: Cotta 1957, Bd. 1, S. 263

[12] BAA 12.2.1921

[13] „Kein Volk lebt länger als die Dokumente seiner Kultur“ (vom Reichsparteitag 1934). Heimatblätter Jg. 11 Nr. 11, November 1938, S. 47

[14] Aber er erklärte sich dazu auch ausdrücklich bereit. Als der Geschichtsverein den Reichsstatthalter um einen Zuschuss zur Ausgestaltung des neuen Heimatmuseums bat, versprach er „höchste Einsatzbereitschaft im Sinne der Arbeit unseres Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler“ (Schreiben vom 29.10.1938, StArch (B) A/7).

[15]  BAA 6.5., 8.5.1939

[16] Heimatblätter Jg. 11 Nr. 11, November 1938, S. 48

[17] Heimat-Blätter Jg. 14, 1951, Nr. 1 S. 1

[18] Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, Bd. 3, S. 1628

[19] Siegfried Lenz, Heimatmuseum. Hamburg: Hoffmann und Campe 1978, S. 655

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